Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud by Nicholas Meyer

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud by Nicholas Meyer

Autor:Nicholas Meyer [Meyer, Nicholas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Krimi
Herausgeber: Bastei Lübbe
veröffentlicht: 0100-12-31T23:00:00+00:00


KAPITEL NEUN

Ein Tennisspiel und eine Violine

Sigmund Freuds Warnung war gerechtfertigt: Holmes schien zwar kein Verlangen nach Kokain mehr zu haben, aber die strikteste Wachsamkeit war vonnöten, um ihm jeglichen Zugang zu dem Gift zu verwehren. Da das Schlimmste, wie auch Doktor Freud mir versicherte, vorüber war, wollte ich eigentlich nach England zurückkehren, aber er beschwor mich, zu bleiben. Holmes’ Lebensgeister waren immer noch nicht zurückgekehrt, er mußte zum Essen mühsam überredet werden, und er selbst konnte noch nicht in seine eigene Welt zurückkehren; er brauchte so offensichtlich einen Freund, daß ich mich bereit fand, noch eine Weile zu bleiben.

Wieder tauschten meine Frau und ich Telegramme aus; ich umriß die Situation und bat sie um Geduld, und sie antwortete herzlich und ermutigend: Die Praxis, so ließ sie mich wissen, wurde von Cullingworth aufs beste versorgt, und sie selbst versprach, Mycroft Holmes von der Genesung seines Bruders zu unterrichten.

Aber Holmes’ Fortschritte waren minimal. Zwar war er nicht mehr am Rauschgift interessiert, er zeigte aber auch keinen Enthusiasmus für irgend etwas anderes. Wir zwangen ihn zum Essen und überredeten ihn zu Spaziergängen in den Parks nahe der Hofburg. Bei diesen Anlässen promenierte er pflichtbewußt, wobei er den Blick stets auf den Boden gerichtet hielt. Ich war nicht sicher, ob ich diese Entwicklung begrüßen sollte; zweifellos entsprach es ganz den Gepflogenheiten des alten Holmes, der fast nie die Landschaft beachtete und lieber Fußabdrücke studierte. Aber als ich versuchte, mit ihm darüber zu sprechen, und ihn nach dem Resultat seiner Studien befragte, ersuchte er mich nur mit müder Stimme, ihn nicht so gönnerhaft zu behandeln, und ließ es dabei bewenden.

Er nahm seine Mahlzeiten jetzt mit den anderen Mitgliedern des Haushalts ein, schwieg eisern, trotz aller unserer Ansätze zur Konversation, und aß wenig. Dr. Freuds Gespräche über seine anderen Patienten schienen ihn nicht im geringsten zu interessieren, und meine eigene Aufmerksamkeit war so von Holmes in Anspruch genommen, daß ich auch nicht viel von ihnen mitbekam. Ich erinnere mich vage, daß er sie mit den seltsamsten Namen bezeichnete; manchmal sprach er vom ›Rattenmann‹ oder vom ›Wolfsmann‹, manchmal von einer Person namens ›Anna O.‹. Mir leuchtete ein, daß er die Identität der Betreffenden aus Gründen beruflicher Diskretion nicht preisgeben wollte, aber ich glaube, daß ein sonst nur latent vorhandener Sinn für Humor, oder zumindest ein echtes Talent für anthropomorphische Assoziationen, in den Spitznamen zum Vorschein kam. Noch heute, wenn ich vor dem Einschlafen meine Gedanken wandern lasse, fallen mir die Tischgespräche im Freudschen Hause wieder ein, und ich muß lächeln, wenn ich an den Mann denke, der wie eine Ratte oder wie ein Wolf aussah. Und Anna O.? War sie vielleicht von bemerkenswert rundlichen Formen?

Merkwürdigerweise war das einzige Familienmitglied, das Holmes eine positive Reaktion entlockte, eine andere Anna, Freuds kleine Tochter. Sie war ein bezauberndes Kind (ich habe im allgemeinen für Kinder nicht viel übrig*), intelligent und liebenswert. Nach einem Tag hatte sie die schreckliche Angst vor Holmes’ Anfällen überwunden und begegnete ihm ganz unbefangen. Instinktiv war sie bei ihren Annäherungsversuchen sehr behutsam, aber Annäherungsversuche waren es dennoch.



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